Leben ohne Familienunterstützung
Das Corona-Virus wurde zu Beginn der Pandemie häufig als Gleichmacher gesehen: „Vor dem Virus sind wir alle gleich“ oder „Das Virus macht keine Unterschiede“ war oft zu hören. Aber ist das so?
Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass viele verschiedene Faktoren zusammenwirken, die die Vulnerabilität erhöhen oder vermindern. Das öffentliche Bild von besonderer Betroffenheit war nach den ersten Wochen der (Kontakt-)Beschränkungen geprägt von Berichterstattungen zu sogenannten Risikogruppen, Menschen, die Kinder erziehen, und Selbstständigen, die hohe Einnahmenausfälle hatten. Die Auswirkungen der Pandemie und der mit ihr einhergehenden Einschränkungen entfalten aber in verschiedenen Lebenssituationen nicht immer die gleichen Auswirkungen. Das erleben zum Beispiel lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter* und queere Menschen, die keine oder sehr wenig Unterstützung von ihren Familien erfahren.
Fehlende Unterstützung für LSBTIQ*
Diskriminierung und gesellschaftliche Normen zu Lebensgestaltung und Lebensweisen führen für manche LSBTIQ* dazu, dass nicht nur familiäre, sondern auch Community-basierte Auffang- und Unterstützungsmechanismen nicht oder nur eingeschränkt funktionieren.
Zum einen erleben viele LSBTIQ* ein Leben lang Abweisung und Ausschluss aufgrund von lsbtiq*-feindlicher Ablehnung ihrer sexuellen Orientierung, des Geschlechts und/oder der Geschlechtsidentität im Kreis der Familie, in der Schule, bei der Ausbildung oder auf der Arbeit, in der Nachbar*innenschaft, im Gesundheits- oder Freizeitbereich.
Zum anderen finden sich diskriminierungssensible soziale, medizinische und freizeitorientierte Unterstützungsmöglichkeiten beziehungsweise Szeneeinrichtungen häufig nicht am eigenen Wohnort, sondern in den Großstädten. So verlassen viele LSBTIQ* ihren Herkunftsort und ihre Herkunftsfamilie und bauen sich eine Wahlfamilie an einem anderen Ort auf.
Wenn die Allgemeinheit an LBSTIQ* denkt, wird meist ausgeblendet, dass auch Behinderung, Rassismuserfahrung oder Obdachlosigkeit und schlicht ein hohes Lebensalter und/oder Pflegebedürftigkeit zu einem queeren Leben gehören können. Auch innerhalb der LSTBIQ*-Community gibt es diesbezüglich Ausschlüsse. Angebote für speziell lsbtiq* Jugendliche und lsbtiq* Menschen in Haft oder in Pflege- und Senior*innen-Einrichtungen sind rar und meist auf größere Städte beschränkt. In Bezug auf ein Leben ohne (herkunfts-)familiäre Unterstützung stellen also auch LSBTIQ*-Szenen wenig Unterstützungsangebote bereit. Dazu kommt, dass die Regelangebote für Jugendliche, Straffällige, Senior*innen oder Menschen mit chronischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen wie selbstverständlich für Cis-Heterosexuelle konzipiert sind.
Deshalb kann gerade Einsamkeit für LSBTIQ* in vielen Lebenslagen zum zentralen Thema werden. Diese Einsamkeit belastete beziehungsweise belastet viele LSBTIQ* während des Corona-Lockdowns: Etwa 50 Prozent aller trans* und asexuellen Menschen geben an, einsam zu sein, während dies nur 15 Prozent aller Heterosexuellen tun.
Höhere Risiken und Belastungen für LSBTIQ* in Corona-Zeiten
Die gesellschaftlichen Ausschlüsse, die es schon vor Corona gegeben hat – auch in queeren Räumen – sind durch die Pandemie, die Eindämmungsmaßnahmen und auch die an vielen Orten stattfindenden Demonstrationen von Corona-Leugner*innen zum Teil noch verstärkt worden. So entsteht ein Dilemma – einerseits die Isolation, andererseits ein öffentlicher Raum, der (potenziell) gefährlich sein kann. Ein Teil der Szene ist in den Untergrund verlagert worden, etwa Partys und Sexarbeit, weil kein öffentliches Gespräch über (sexuelle) Bedürfnisse stattfindet.
Unsicheres Wohnen für queere Menschen
Viele LSBTIQ* sind gezwungen, mit LSBTIQ*-feindlichen Menschen zusammenzuleben – so zum Beispiel Jugendliche, die noch bei der Herkunftsfamilie leben. Für viele (junge) lsbtiq* Menschen bietet die Herkunftsfamilie keinen Schutzraum. Zwar ist Sexualität und Körperlichkeit – unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung – ein Thema für alle jungen Personen, aber Vorurteile, Unwissen, Angst und Machtverhältnisse führen oft dazu, dass Herkunftsfamilien insbesondere für lsbtiq* Jugendliche unsicher oder gar gewaltvoll sind.
Auch LSBTIQ* in Unterkünften für Geflüchtete müssen gegebenenfalls mit LSBTIQ*-feindlichen Menschen zusammenzuleben. Nicht nur deshalb kann die Corona-Lage die ohnehin isolierenden und unsicheren Arten des Lebens und „Wohnens“ in Sammelunterkünften massiv verschlimmern. In solchen Ausnahmesituationen sind LSBTIQ* und Frauen besonders oft von Gewalt, Unsicherheit und psychischem und/oder physischen Stress betroffen.
Folgen der Kontaktbeschränkungen
Für Menschen, die allein leben oder keinen Zugang mehr zu einem stützenden Umfeld haben, können die Einschränkungen im persönlichen Kontakt, bis hin zu Isolation, die seelische Gesundheit beeinträchtigen. Dies kann Rückfälle bei (ehemals) Drogen- und Alkoholkonsumierenden begünstigen. Gewalt gegen Kinder und Partner*innen kann zunehmen, mehr Menschen können an Einsamkeit leiden, mehr Kranke allein sterben und nicht in Würde beerdigt werden.
Das alles belastet. Dazu kommt, dass sich Regenbogenfamilien aufgrund des oft nicht abgesicherten rechtlichen Status Sorgen machen müssen, wie es in medizinischen Notfällen um Betreuung- und Umgangsrechte für die Kinder oder Partner*innen bestellt ist.
Homosexuelle binationale Paare sind stärker betroffen von den nationalen (Ein-)Reisebeschränkungen als heterosexuelle binationale Ehepaare, da deren eingetragene Lebenspartnerschaft, die gleichgeschlechtliche Ehe oder die Geburtsurkunden der Kinder in diversen Staaten nicht anerkannt werden und dadurch die Einreise in das Herkunftsland der jeweiligen Partner*innen mangels familiärer Zugehörigkeit nicht gestattet wird.
Trans* Menschen sind wiederum mit der monatelangen Aussetzung vermeintlich aufschiebbarer Operationen konfrontiert – oder müssen befürchten, nur einen eingeschränkten Zugang zu Hormonen zu haben, weil Arzttermine abgesagt oder nicht wahrgenommen werden können.
Schließung von Szene-Strukturen
Ein Entfliehen aus Diskriminierung, Stresssituationen und Gewalterlebnissen in unsicheren Räumen des Wohnens, Arbeitens und Lebens ist für viele LSBTIQ* kaum möglich – und deswegen sind die Strukturen der Community mit ihren Treffpunkten und Unterstützungsangeboten so wichtig.
Entsprechend führen coronabedingte Kontaktbeschränkungen oder gar Quarantänemaßnahmen, die Schließung von queeren Einrichtungen und das Herunterfahren von Community für viele zu Isolation, Angst oder Depression. Unter diesen Bedingungen sind digitale Szene-Strukturen, Video-, Telefon- und Chat-Angebote von Beratungsstellen sowie das digitale Organisieren von gesellschaftlichem Engagement für kollektive Anerkennung und den Schutz queerer Strukturen zentrale Wege zum Empowerment.
Vielfältige Lebensweisen – Gleiche Rechte
In Zeiten, in denen Lebens- und Wohnformen zu gegebenenfalls auch unerwarteten (Haupt-)Bezugsgruppen werden, weil sie zu einem „Haushalt“ gehören, muss die Vielfalt der Lebensweisen und Familienstrukturen von queeren Menschen stets mitgedacht werden – zumal in einer Gesellschaft, in der auch Cis-Heterosexuelle in immer diverseren Konstellationen leben, lieben, wohnen und gegebenenfalls Kinder erziehen.
Herausforderungen, wie die Corona-Pandemie, machen nicht gleich, nur weil sie alle Menschen betreffen. Sie betreffen alle Menschen individuell und durchaus ganz unterschiedlich. Deshalb ist es so wichtig, dass die existierende Vielfalt bei allen gesellschaftspolitischen Entscheidungen und Maßnahmen stets mitgedacht wird. Geflüchtete, arme Menschen, Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen, Sexarbeiter*innen, junge und ältere Menschen, sie alle können queer sein.
Deshalb brauchen wir Unterstützungsangebote, gerade auch gegen Einsamkeit und soziale Isolation, die offen für alle sind und Personengruppen wie zum Beispiel LSBTIQ* selbstverständlich mitdenken und sichtbar machen. Bei der Ausgestaltung dieser Strukturen sollten LSBTIQ* in die Debatten einbezogen werden, als Expert*innen in eigener Sache.
Autor*innen: Dr. Jennifer Petzen und Koray Yılmaz-Günay
Kurzbiografien:
Dr. Jennifer Petzen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag. Ihre Schwerpunkte sind dort Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung. Davor war sie jahrelang Geschäftsführerin der Berliner Lesbenberatung. Sie lehrte an verschiedenen Universitäten zu den Themen Gender, Queer, Migration und Intersektionalität.
Koray Yılmaz-Günay ist Co-Geschäftsführer des Migrationsrates Berlin e.V., einer Dachorganisation von mehreren Dutzend Migrant*innen-Organisationen. Er ist Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrates Brandenburg. Aus seiner eigenen publizistischen Tätigkeit zu den Themen Queer, Migration und Rassismus ist der Verlag Yılmaz-Günay entstanden.